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Covid-19 und das ILL (2020)

Die Erfahrung des ILL im Dienste der Forschung über das Coronavirus (SARS CoV-2)

 

Helmut Schober, am 31. März 2020

Direktor des Instituts Laue-Langevin

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©Shutterstock 1625951248, <creativeneko.pl>

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Wenn wir den Nachrichten zuhören, kann man leicht den Eindruck haben, dass die gegenwärtige öffentliche Gesundheitskrise vor allem einen großen Mangel an Vorbereitung unserer Gesell­schaften gegenüber der Bedrohung durch neue In­fektionskrankheiten offenbart. Und es ist of­fensichtlich, dass wir uns besser hätten vorbereiten können. Persönlich bin ich der Mein­ung, dass vor allem mehr hätte getan werden müssen, um unser Gesundheitssystem vorzubereiten. Doch trotz dieser berechtigten Kritik müssen wir auch verstehen, dass wir besser als jede Generation vor uns für den Kampf gegen diesen unsichtbaren Feind gerüstet sind. An erster Stelle steht die Robustheit unserer Wirtschaft, die es ermöglicht, die Auswirkungen der lebenswichtigen sozialen Distanzierungsmaßnah­men abzuschwächen, die Tausende von Leben retten werden. Trotz der Ausgangssperrmaßnahmen, die er­griffen wurden, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, können alle lebenswichtigen Güter und Dienstleistungen nach wie vor geliefert wer­den, und dank moderner Kommunikationsmittel können viele von uns ihre berufliche Tätigkeit fortsetzen, indem sie von zu Hause aus arbeiten. Hinzu kommen die hochentwickelten dia­gnostischen und therapeutischen Waffen, die zur direkten Bekämpfung von Covid-19 verfügbar werden. Einer der Hauptgründe für diese Wider­standsfähigkeit ist die moderne Wissenschaft, die natürlich auch im Mittelpunkt der Kernaufgabe des ILL steht. Ich bin mir voll und ganz bewusst, dass all dies wenig dazu beiträgt, die Schmerzen und das Leiden der von dieser schrecklichen Krankheit am schwersten Betroffenen zu lindern, aber vielleicht hilft es uns, unseren Seelenfrieden zu bewahren.

Als Louis Pasteur am 26. Oktober 1885 vor der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Paris die erste erfolgreiche Impfung eines 9-jährigen Jungen ankündigte, der mit der damals als ausnahmslos tödlich geltenden Viruserkrankung Tollwut infiziert war, wusste er noch nicht einmal, mit welchem Feind er es zu tun hatte. Wenn wir dies mit unserer heutigen Situation vergleichen, ergibt sich ein ganz anderes Bild. SARS-CoV-2, das Virus, das Covid-19 verursacht, wurde sofort nach seiner Entdeckung entziffert. Seine vollständige Genomsequenz ist im Internet verfügbar. Mit Hilfe dieser Sequenz wurden die ersten Testkits für die Diagnose einer Infektion mit SARS-CoV-2 entwickelt. Die Tests verwenden ein Mitte der achtziger Jahre entwickeltes DNA-Vervielfältigungsverfahren, das heute in allen biologischen Forschungs- labors zu finden ist. Forscher auf der ganzen Welt arbeiten rund um die Uhr daran, alternative Testprotokolle zu entwickeln, die ebenso zuverlässig, aber schneller, billiger und bei der Patientenuntersuchung einsetzbar sind (schauen Sie sich zum Beispiel an, was von der in Lyon ansässigen Firma bioMérieux gemacht wird). Sie sind zuversichtlich, dass diese Tests innerhalb der nächsten Wochen zur Verfügung stehen werden. Künstliche Intelligenz wird mit den neuesten Erkenntnissen der Zell-Virus-Interaktion und der DNA-Manipulation kombiniert, um diesen Entwicklungsprozess zu beschleunigen. Diese Tests werden bei der Aufhebung der Aus­gangssperre eine wichtige Rolle spielen. Und natürlich arbeiten die Wissenschaftler nicht nur an der Diagnostik, sie suchen bereits nach einem Heilmittel. Dank unserer Kenntnis des genetischen Codes konnten viele der Proteine, aus denen das Virus besteht, bereits identifiziert werden. Heute, weniger als drei Monate nach der Entdeckung des Virus, sind die dreidimensionalen Strukturen dieser Proteine bereits bekannt, zum Beispiel dank des Einsatzes von Synchrotrons (siehe Linlin Zhang et al., Science 2020, Crystal structure of SARS-CoV-2 main protease provides a basis for design of improved α-ketoamide inhibitors). Diese Strukturinformation wird bereits verwendet, um die pharmazeutische Forschung auf der Suche nach Inhibitoren zu leiten, die es ermöglichen, die lebenswichtigen Funktionen des Virus zu blockieren und so seine Vermehrung zu behindern und den am stärksten Infizierten zu helfen.

Lassen Sie mich nun ein paar Worte dazu sagen, wie wir am ILL zu diesen Forschungsbemühungen beitragen. Ich entschuldige mich im Voraus für einige unvermeidliche wissenschaftliche Fachausdrücke und hoffe, dass Sie mir bis zum Ende Nachsicht entgegenbringen werden.

Matthew and LADI III
Photo by Bob Cubit
The DALI project, a 2nd quasi-Laue diffractometer.

Die Neutronenkristallographie ist eines der grundlegenden modernen Analysewerkzeuge, um Einblicke in den Lebenszyklus von Viren zu gewinnen. Vereinfacht ausgedrückt liefert uns die Kristallographie dreidimensionale Bilder der verschiedenen biochemischen Moleküle, auf die das Virus zur Vermehrung angewiesen ist. Wenn diese Moleküle blockiert werden können, indem beispielsweise durch geeignete Medikamente ein Molekül an den Ort gebracht wird, an dem die biochemische Wirkung stattfindet, dann kann die Viruserkrankung geheilt werden. Bei vielen der Prozesse, bei denen diese Anlagen auf Wasserstoffkerne angewiesen sind, spielen sie eine wesentliche Rolle. Hier kommen die Neutronen ins Spiel. Neutronen sind ideal für das Finden von Wasserstoffkernen in der Struktur von Viren. Das ILL ist die führende Neutronenanlage auf dem Gebiet der biologischen makromolekularen Neutronen- kristallographie. Jüngste Studien über die HIV-1-Protease (ein biochemisches Molekül, das - wie eine Schere - lange Polymerketten schneidet und für den Lebenszyklus des HIV-Virus essentiell ist), die am Instrument LADI des ILL durchgeführt wurden, illustrieren dies perfekt. Die gesammelten Neutronendaten können dazu verwendet werden, das Design des Medikaments zu verbessern, das die Schere in ihrem aktiven Zentrum blockiert. SARS-CoV-2 bietet viele potenzielle Ziele für diese Art von Neutronenstudie. Angesichts der Relevanz dieser Forschung hat das ILL beschlossen, im Rahmen des Ausdauer-Upgrade-Programms seine Kapazität durch ein weiteres Instrument (DALI) zu erweitern. DALI befand sich gerade im Aufbau, als der Lockdown in Kraft trat. Die Installationsarbeiten werden abgeschlossen sein, wenn er aufgehoben ist und das Instrument wird während des nächsten Reaktorzyklus in Betrieb genommen.

Charles and the SANS D33
©2012 Laurent Thion <ecliptique.com>

Viele biochemische Molekule setzen sich aus mehreren Untereinheiten zusammen. Um ein genaues Bild dieser so genannten Komplexe zu erhalten, ist die Neutronenklein- winkelstreuung ein wichtiges Analysewerkzeug. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Streuwinkel des Neutrons bei der Streuung an diesen Objekten umso kleiner wird, je größer die untersuchten Objekte sind. Neutronen bieten auch den großen Vorteil, dass einzelne Untereinheiten durch erweiterte Deuterierung markiert werden können, wodurch es möglich ist, bestimmte Bereiche (RNA, Proteine und Lipide) innerhalb der Komplexe zu unterscheiden. Mit seiner exzellenten Ausstattung an Kleinwinkelinstru­menten (D11, D22 und D33) und seiner herausragenden Expertise in deren Anwendung auf biologische Systeme ist das ILL bestens geeignet, solche Untersuchungen an SARS-CoV-2 durchzuführen.

Anton and the reflectometer SuperADAM
©2019 Laurent Thion <ecliptique.com>

Ein Großteil der Wirkung im Lebenszyklus eines Virus findet an der Oberfläche statt. So wie ein Raumschiff an eine Raumstation andockt, so muss sich das Virus an die Zelle, die es infizieren will, ankoppeln und eine Verzahnung herstellen, durch die es sein genetisches Material abladen kann. Im speziellen Fall von SARS-CoV-2, das einer Seemine sehr ähnlich sieht, docken die Proteine in den Stacheln an die Epithelzellen in den Atemwegen des Patienten an, indem sie ein spezielles Enzym (ACE2) binden, das auf der Oberfläche dieser Zellen exprimiert wird - und somit vorhanden ist. Ein Großteil der Erforschung von SARS-CoV-2 wird sich auf diese Andockprozesse konzentrieren. Die Neutronenreflektometrie, d.h. die auf Oberflächen empfindliche Neutronentechnik, hat uns bereits gezeigt, wie dies im Fall des Hepatitis-C-Virus geschieht dank der 2017 durchgeführten Forschung. Das ILL verfügt über eine Reflektometrie-Suite der Spitzenklasse und eine hervorragende Expertise bei der Anwendung dieser Suite zur Untersuchung von Membransystemen.

Peter and Ingo on the spin echo spectrometer IN15
©2017 Laurent Thion <ecliptique.com>

Und wir sollten nicht vergessen, dass Viren auch in ihrer physiologischen Umgebung hochdynamische Systeme sind. Sie in Aktion zu beobachten, indem man betrachtet, wie sich ihre Komponenten bewegen, deformieren und zusammenballen, ist für die Optimierung diagnostischer und therapeutischer Prozesse unerlässlich. Die Neutronenspektroskopie, eine Technik, die sich ideal für die Beobachtung der Bewegung einer Vielzahl von Materie eignet, von kleinen chemischen Gruppen bis hin zu großen makromolekularen Anordnungen, ist das Mittel der Wahl, um diese Informationen zu erhalten. Ein typisches Beispiel ist die Untersuchung der Clusterbildung von monoklonalen Antikörpern. Die Spektrometer-Suite des ILL, zu der das hochauflösende Spin-Echo-Gerät IN15 gehört, das zur Untersuchung biologischer Prozesse eingesetzt wird, ist in dieser Hinsicht unübertroffen.

Die Wissenschaftler des ILL, die im Bereich der Biologie tätig sind, stellen ihr Fachwissen voll in den Dienst der Bekämpfung von Covid-19. Zu diesem Zweck wurde eine eigene Task Force eingerichtet. Ihre Mitglieder führen derzeit intensive Diskussionen mit ihrer Nutzergemeinschaft, um die vielversprechendsten experimentellen Wege zu ermitteln, die es zu erforschen gilt. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die Fähigkeiten von Deuterierung und Kristallwachstum der Life Science Gruppe und die Möglichkeiten der Membran- und Soft-Matter-Präparation, die die Soft-Matter Science and Support Gruppe bietet. Die ILL-Leitung hat beschlossen, Vorschlägen die sich auf die Covid-19-Forschung beziehen, nach der Wiederinbetriebnahme des Reaktors vorrangig Zugang zu gewähren.

Ich möchte mit einer persönlicheren Bemerkung schließen. Ich bin immer wieder erstaunt über die enormen Fortschritte, die wir in den letzten Jahrzehnten in unserem Verständnis der Welt um uns herum gemacht haben, und darüber, wie diese Fortschritte uns in die Lage versetzt haben, das menschliche Leben auf der Erde zu verbessern (vorausgesetzt, es wird auf die richtige Weise genutzt!). Unsere Fähigkeit, auf die Bedrohung durch Covid-19 in einer Weise zu reagieren, von der frühere Generationen nur träumen konnten, ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie weit wir gekommen sind. Obwohl es nur natürlich ist, dass wir gerne noch besser ausgerüstet wären, um Krankheiten wie Covid-19 zu bekämpfen und (warum nicht?) sie eines Tages sogar ganz auszurotten, frage ich mich oft, warum wir nicht ein wenig dankbarer für das sind, was wir bereits erreicht haben. Die einzige Erklärung, die ich für diesen Mangel an Dankbarkeit habe, ist, dass sich unter uns aufgrund der Blitzschnelligkeit der wissenschaftlichen Entdeckung eine völlig irrationale Erwartung entwickelt hat, dass Forscher allwissend sein und sofort Antworten geben sollten. Erst gestern las ich in Le Monde eine Erklärung des Ökonomen Robert Boyer, die diese Haltung perfekt illustriert:
Les épidémiologistes sont désarçonnés par ce nouveau virus don't ils ne découvrent les propriétés que pas à pas.

(Epidemiologen sind verblüfft über dieses neue Virus, dessen Eigenschaften sie erst nach und nach entdecken.)
Ehrlich gesagt, was würden wir sonst erwarten, wenn nicht eine schrittweise Entdeckung? Und sollten wir nicht stolz darauf sein, dass diese schrittweise Entdeckung wahrscheinlich nur ein paar Wochen oder höchstens ein paar Monate dauern wird? Die weltweite Forschungsgemeinschaft verdient sicherlich unseren Stolz und unsere Dankbarkeit!

Helmut Schober

Dernière mise à jour: 02 November 2023